Der Mann hat weiche Gesichtszüge und etwas schräg stehende Augen. Die ersten zwei Monate nach seiner Geburt hatte er wegen eines Herzfehlers im Krankenhaus verbringen müssen. Seine große Schwester besuchte ihn oft. Die Oma kam mit.
Die Elfjährige freute sich. Trotz der beängstigenden Schläuche und Maschinen fand sie ihr Brüderchen süß. Von ihren Eltern wusste sie, daß die Chancen gut standen, es aber keine Sicherheit gab. „Du musst leben, du musst leben“, wiederholte sie in Gedanken. Sie hatte manchmal Angst, das Brüderchen könnte plötzlich nicht mehr da sein. Aber sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, daß der Kleine einmal sterben würde.
Die Oma seufzte, wenn sie den Kleinen sah. Er war so winzig. Und er würde nie richtig gesund sein. Nie klar im Kopp. Nie stark. Aber wahrscheinlich würde er ohnehin nicht überleben. Hoffentlich nicht. „Wäre besser, wenn er stirbt“, sagte sie. Das Mädchen sah sie verständnislos an.
Der Mann lebt. Mit seiner Schwester, die mittlerweile längst berufstätig ist, trifft er sich wöchentlich. Aber „kleiner Bruder“ mag er nicht genannt werden. „Ich bin ja nicht klein“, sagt er dann, reckt sich, lacht und legt seiner Schwester eine Hand auf den Kopf.
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Heute werden die meisten Menschen in Westeuropa (über andere Weltgegenden weiß ich zu wenig, um empirische Aussagen zu machen) übereinstimmen, daß die Oma sehr unsensibel gegenüber dem Mädchen war. Nicht ganz so viele werden übereinstimmen, daß sie auch sachlich unrecht hatte. Noch weniger werden darin übereinstimmen, daß Abtreibung immer ein Greuel ist.
Wir wissen immer mehr über das vorgeburtliche Leben, bildgebende Verfahren werden immer genauer, auch im frühen Stadium der Schwangerschaft. Es ist längst klar, daß die befruchtete Eizelle bereits alle Erbinformationen in sich trägt. Wenn ein Vater vor der Geburt seines Kindes stirbt, so ist nach deutschem Recht der Nasciturus, also das noch ungeborene Kind, potentiell (und bei seiner Geburt tatsächlich) erbberechtigt. Das juristische Erbe ist mit dem biologischen Erbe von Anfang an verknüpft, weil das Erbrecht von vernünftigen Leuten erdacht wurde.
Unabhängig davon, ob die befruchtete Eizelle heranwächst zu einem immer hilfsbedürftigen Menschen oder einem, der ein selbständiges Leben führt, auch unabhängig von jeder körperlichen, geistigen oder moralischen Entwicklung, hat jeder Mensch das Recht, zu leben. Einem unschuldigen Menschen (und das ist er von der Zeugung an mindestens bis zu dem Punkt, wo er sich bewusst für oder gegen das Gute entscheiden kann) darf man unter keinen Umständen dies Recht verweigern.