Es ist fast unmöglich geworden, sachlich zu diskutieren. Dabei muss das Thema nicht einmal die allgegenwärtige Corona sein; Klimawandel, Naturschutz, Religion, Medizin, Gesundheit, Kindererziehung, Geschichte und Politik eignen sich auch sehr zu in erbitterten Streit ausartende Debatten, und selbst bei Themen wie Kochen oder Second-Hand-Gruppen habe ich schon unfreundliche Grundsatzdiskussionen erlebt. Statt nun die Regeln der fairen Diskussion zu lernen, werden die Diskussionen immer genervter und aggressiver. Nachfrage regelt das Angebot, und so gebe ich hier eine Handreichung für die schnelle und effektive Vergrämung von Diskussionspartnern.
Whataboutism tötet eine Diskussion schnell. Ein Gesprächspartner sagt: „Jetzt haben wir in zwei Jahren Corona schon über 5 Millionen Tote.“ Ein anderer: „Und noch viel mehr Menschen werden abgetrieben!“ Ein Dritter: „Darum geht es doch gar nicht!“ Der zweite: „Du bist ja total herzlos!“ Und schon hat man die Diskussion um Schutzmaßnahmen in der Pandemie getötet zugunsten einer Diskussion um Abtreibung, und jeder, der jetzt gerade lieber über Corona reden wollte, gilt als Befürworter von Abtreibungen. Nebenbei entsteht eine giftige Debatte, ob Lebensschützer sich eigentlich um geborene Kinder kümmern. (Ja, tun sie, aber das gehört jetzt gerade wirklich nicht hierher.) Whataboutism funktioniert am besten, wenn man auf ein etwa gleich wichtiges Thema ablenkt. „Die Milch ist auch teurer geworden“ ist als Nebenthema ungeeignet, wenn es um Millionen Tote geht. Nazizeit-Vergleiche eignen sich bedingt, Hexenverbrennungen sind ein probates Ablenkungsthema, andere historische Vergleiche (die Kosten der Pyramiden im Vergleich mit dem damaligen Bruttosozialprodukt, Schlacht von Issos, Dreißigjähriger Krieg) eher nicht. Immer hingegen gehen
ad-hominem-Argumente. So nennt man die Erwachsenen-Version von „Und außerdem bist du doof“. Hier sind Ausbildung und sozialer Status des Kontrahenten eine ergiebige Quelle. Der andere ist entweder ein halbgebildeter Tölpel oder ein Schnösel der Oberschicht, gern auch einer, der ja nur halbverstandene Sachen nachplappert. Gelegentlich spielen ad-hominem-Argumente ins Rassistische (sollte der Kontrahent dunkelhäutig sein oder seine Wurzeln auf einem anderen Kontinent haben, am besten beides, mache man daraus den Vorwurf der Ahnungslosigkeit). Auch Religion läßt sich dazu benutzen. Oder Religionslosigkeit, sofern man selbst religiös gebunden ist. Hat der Gegner irgendeine körperliche, seelische, gesundheitliche oder biographische Besonderheit, kann man sagen „Von dem Fettklops / dem Autisten / dem Ex-Knacki lass ich mir keine Vorschriften machen“. Dann artet die Diskussion entweder in Mobbing aus oder entwickelt sich zu einer engagierten Debatte über den Umgang mit straffälligen, übergewichtigen Autisten. Mit Segelohren. Sofern man keine Makel am Gegner findet, ist
Pathologisierung eine bewährte Methode, den Gegner mundtot zu machen. Der andere ist entweder schlicht „irre“, ein „Idiot“, „narzisstisch“, oder er ist von neurotischen Ängsten getrieben. Dann hat man selber – man ist ja geistig gesund – gute Karten. Man hat dem anderen gegenüber immer Recht, einfach weil er gestört ist und man selbst nicht. Die Unterstellung von Angst ist dabei besonders häufig, weil die scheinbar besorgte Frage „Wovor hast du Angst?“ nicht unhöflich wirkt. Ich habe darauf mal wahrheitsgemäß geantwortet: „Vor großen Hunden, betrunkenen Männern und Post vom Finanzamt.“ Das irritierte die Fragestellerin, denn nichts davon hatte mit der Diskussion zu tun. Selbst wenn ich vor einem zur Diskussion gestellten Punkt Angst hätte, würde mich das nicht diskussionsunwürdig machen. Dennoch wird Angst als ein schlimmer Makel gesehen, den der Gegner unbedingt hat, sonst wäre er ja der gleichen Meinung wie man selbst.
Exkurs: Mir wurde schon mehrfach Angst unterstellt, weil ich mich impfen lasse, während die Gesprächspartner völlig angstfrei zu sein glauben und zugleich von Weltverschwörung und schweren bis tödlichen Impfschäden en masse ausgehen. Tatsächlich habe ich Angst, daß noch erheblich mehr Menschen als gut 5 Millionen an Covid19 sterben und noch weit mehr dauerhafte Schäden davontragen werden, und daß sich unter diesen auch solche Menschen befinden werden, die ich lieb habe. Deshalb bin ich für das Impfen und nehme eventuelle Nebenwirkungen in Kauf, weil ich abwäge. Zum Vergleich: Da ich Epileptiker bin, nehme ich täglich ein Medikament, das Anfälle unterdrückt. Auch da wäge ich ab. Entweder ich schlucke das Zeug und bleibe mit hoher Wahrscheinlichkeit (und solange ich nicht unausgeschlafen bin) anfallfrei, strapaziere aber meine Leber. Oder ich schlucke das Zeug nicht, schone die Leber, kippe in kürzer werdenden Abständen um und liege dann bewußtlos und zuckend am Boden. Tatsächlich ist meine Angst vor Grand-Mal-Anfällen, die ohne Medikament mit Sicherheit kommen (ich hab's ausprobiert!) erheblich größer als meine Angst vor einem Leberschaden, der vielleicht irgendwann schlimm wird. Und meine Angst, isoliert und röchelnd auf der Intensivstation zu liegen und dabei auch andere zu gefährden, beherrscht keineswegs mein Denken, ist aber größer als meine Angst vor Impfschäden. Ein paar Gespräche mit Ärzten, Schwestern und Genesenen sowie gründliche, über das Anekdotische hinausgehende Information genügen mir zum Abwägen.
Starke Diskussionspartner können über den Versuch der Kränkung hinwegsehen. In diesem Fall sollte man wieder auf die Sachebene gehen, dabei aber
ein Dilemma einseitig betrachten. Daß die grundlegende Freiheit, medizinische Versorgung im Bedarfsfall zu erhalten, während einer Pandemie mit Bewegungsfreiheit, freier Religionsausübung, Freiheit des kulturellen Lebens und anderen wichtigen, aber nicht überlebenswichtigen Freiheiten konkurriert, sollte man ignorieren. Daraus, daß es die medizinische Versorgung während einer Pandemie noch einigermaßen gibt, weil die anderen nur eingeschränkt möglich sind, weil man dem Virus durch bestimmte Einschränkungen die Verbreitung erschwert, mache man, daß es weder medizinische Versorgung noch Bewegungsfreiheit überhaupt noch gibt. Und das Virus wahrscheinlich auch nicht. Sollte der Gegner behaupten, freie Bewegung sei durchaus möglich, nur eben mit Einschränkungen, erwidere man, am besten mit klagend erhobener Stimme: „Ja wo ist denn die freie Bewegung?“ und verspotte jeden, der darauf eine positive Antwort gibt. In diesem Zusammenhang kann man die
falsche Expertise trefflich nutzen. Man kennt jemanden – besser noch: ist jemand -, der einen eindrucksvollen Titel vorweisen kann und viel Erfahrung auf seinem Gebiet hat, gern ein Arzt oder Forscher. Daß das Fachgebiet nichts mit Virologie zu tun hat oder die letzte Publikation vor über zehn Jahren herauskam und in der Fachwelt nicht besonders angesehen ist, wird dabei entweder verschwiegen oder erklärt mit dem System, das den Betreffenden nicht anerkennt. Hier kann man einflechten, daß auch Semmelweis (oder ein anderer zu Recht Berühmter vergangener Zeiten) von seinen Kollegen nicht anerkannt wurde.
Der Einzelfall ist ein Joker, praktisch überall einsetzbar und von allen Seiten. Wenn jemand mit einem der über 4500 Patienten, die derzeit in Deutschland mit Covid19 auf einer Intensivstation liegen, befreundet oder verwandt ist und dies sagt, so ist das ein bedauerlicher Einzelfall. Ist jemand befreundet oder verwandt mit einem der sehr wenigen Menschen, die durch eine Herzmuskelentzündung nach der Impfung verstarben, ist das auch ein bedauerlicher Einzelfall. Einzelfall ist das kämpferische Wort für „das hätte nicht sein sollen und tut mir irgendwie leid, bedeutet für das Große Ganze aber nichts“. Es ist dabei unwichtig, ob es aus medizinischer Sicht als Einzelfall gilt oder als Normalfall oder als irgendetwas dazwischen. In anderem Zusammenhang kann der Einzelfall mit sarkastisch gedehnter Stimme andeuten, daß man selbst von einer Vielzahl an Fällen ausgeht. Sollte der Gegner auf Unschärfen hinweisen, bietet sich die Antwort:
„Informier dich mal!“ Auch das ist ein Joker, und ebenso wie der Ausdruck „Einzelfall“ ist diese Aufforderung manchmal sogar sinnvoll, wenn in einer Diskussion leicht in öffentlichen Nachschlagewerken auffindbare Angaben ignoriert oder in Frage gestellt werden. Allerdings ist der Satz ohne jede Angabe einer möglichen Quelle wirklich unschlagbar; im Subtext heißt er so viel wie „Eigentlich bist du dumm“. Sollte der Kontrahent daraufhin um eine Informationsquelle bitten, schweige man. Es ist nicht opportun, dem Unwissenden auf die Sprünge zu helfen, denn dann könnte er einem ebenbürtig werden.
Anekdotische Evidenz ist der dritte Joker im Spiel. „Mein Cousin kennt jemanden, der an der Impfung gestorben ist“ wird gekontert mit „Aber mein Arbeitgeber kennt jemanden, der an Covid19 gestorben ist“. So kann sich die Diskussion stundenlang im Kreise drehen. Daran ändert nichts, daß es sehr wenig (aber über Null) Impfschäden und sehr viele schwere Erkrankungen und Todesfälle durch Covid19 gibt – seriöse Statistiken haben hier nichts zu suchen. Der Impfbefürworter kann vielleicht auf die provokante Frage „Wie viele Covid19-Kranke kennst du denn persönlich?“ wahrheitsgemäß antworten „Sechs, der jüngste war bei der Infektion 18 und nicht vorerkrankt“. Nun ist aber der Impfbefürworter oft im unfairen Vorteil, außer der anekdotischen Evidenz auch seriöse Statistiken zu kennen. Dann kann man entweder zurück auf Einzelfall oder die Aussage bzw. die zusätzlich herangezogene Statistik anzweifeln. Unter Impfgegnern bestätige man einander die anekdotischen Evidenzen, die sich dann – obwohl Randphänomene – echogleich verstärken zum bedrohlichen Donnerhall. Will ein furchtloser Gegner diesem Getöse entgegentreten, ist die letzte Stufe der Diskussion die
Untersagung von Kritik. Diese Stufe sollte vorsichtig verwendet werden und erst nach Ausreizung aller anderen Mittel. Bei Überdosierung wirkt diese Methode kindisch; in sparsamer Anwendung kann man sich durch Untersagung von Kritik den Nimbus des Wissenden verleihen.
Vielen Dank, sehr geehrte Frau Sperlich, für diese Zusammenstellung von Tools zur Vergrämung möglicher Diskutanten.
Ich muss leider gestehen, dass auch ich manche derselben gelegentlich verwendet habe, weil einige Kommentatoren nicht nur in diesem Forum mich einfach nerven und auf mich gelegentlich wie ein rotes Tuch wirkten.
Kein schöner und erst recht kein christlicher Zug von mir – mea culpa, mea culpa, …
Lese übrigens gerade bzgl. Corona folgende Meldung:
„In den Niederlanden ist einer der prominentesten Impfgegner an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben. Der 53-Jährige hatte einst eine Initiative gegen harte Corona-Maßnahmen gegründet und war aus Überzeugung nicht geimpft.“
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Es ist wohl keiner ganz frei von solchen Tendenzen. Ich auch nicht. Manchmal geht es vielleicht wirklich nicht anders als eine Diskussion hart abzubrechen, aber man (ich auch) sollte wenigstens versuchen „einander in Liebe zu ertragen“. Schwer genug.
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Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die eigene Diskussionshaltung stark dazu beiträgt, wie die Diskussion verläuft. Man kann auch auf die im Artikel genannten unlauteren Diskussionsmethoden und „Joker“ sachlich antworten. Dann besteht die Chance einer sachlichen Fortsetzung des Gesprächs. Außerdem ist es wichtig, die Sach- und die Personebene auseinanderzuhalten. Springt der Gesprächspartner von der Sach- auf die Personebene über, kann man ihm das möglichst sachlich und emotionslos kundtun. Natürlich hängt der Fortgang des Gesprächs auch immer von den Partnern ab. Bei fortgehend unsachlicher oder gar beleidigender Argumentation würde ich das Gespräch abbrechen und auch sachlich mitteilen, warum ich das tue.
Dass es nicht immer leicht ist, sachlich und emotionslos zu bleiben, ist mir klar. Ich habe selbst einmal sehr emotional in einem Gespräch reagiert, was natürlich nicht weiterführte und worüber ich mich danach sehr geärgert habe – auch deshalb, weil meine eigene Argumentation dadurch entwertet wurde. Aber man kann das Coolbleiben trainieren 🙂
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