Warum man nicht morden darf (auch dann nicht, wenn es gerade sehr gut passt)

Das unbedingte Lebensrecht des Menschen wird an seiner unbedingten Würde festgemacht. Allerdings wird diese Würde gar nicht von allen als „unbedingt“ angesehen. Nicht nur an manchem Stammtisch, auch in der Philosophie unserer Tage wird Menschenwürde als etwas Erwerb- und Verlierbares gesehen, etwas, was ein Mensch frühestens ab Geburt und höchstens bis zum Eintritt des Sterbeprozesses, eher noch bis zum Beginn der Demenz, hat. Früchte solcher Überlegungen sind Aufsätze wie der von Giubilini/Minerva, der allen Ernstes das Lebensrecht von bereits geborenen Kindern in Abrede stellt mit dem Argument, zum Personsein gehöre selbständiges Denken, was bei einem Baby noch nicht vorhanden ist. (Ich bitte die Leser, aus diesem Absatz nicht zu schließen, daß ich diese Ansicht vertrete. Näheres findet sich unter dem Stichwort Lebensrecht.)

Der Philosoph Alasdair MacIntyre vertritt die Ansicht, die Menschenwürde könne durch Sünde verlorengehen. Er wirft die Frage auf, ob Hitler noch Menschenwürde besessen habe. Und in der Tat fällt es schwer, einem Hitler oder Mao oder Stalin oder Pol Pot oder Kim Jong Un unzerstörbare Würde zuzugestehen. Es scheint ungerecht, das zu tun (und MacIntyre geht es immer um Gerechtigkeit). Warum soll ein Despot und Massenmörder die gleiche Würde innehaben wie ein Baby oder wie ein großer Wohltäter und Menschenfreund?

Ich halte das für die falsche Frage. Menschenwürde ist etwas anderes als Tugend – und zwar so anders, daß sie nicht in Verbindung miteinander stehen können. Hätte sie mit Tugend etwas zu tun, müsste man sie – wie Alberto, Giubilini und Singer es tun – einem Menschen bis zu dem (von diesen undefinierten) Alter der Vernunft und Entscheidungsfähigkeit rundweg aberkennen und selbstverständlich auch einem Dementen oder in anderer Weise erheblich geistig Behinderten – und den Bösen, wie immer man das definiert. Dann wäre „Menschenwürde“ aber nur noch ein Wort für „Lebensberechtigung der Gesunden und Starken, sofern sie gut sind“. Es stimmt zwar, daß das Wort „Menschenwürde“ nicht in mathematischer Schärfe definierbar ist. Aber daß eine Definition wie diese eindeutig zu kurz greift, muss ich wohl nicht näher erklären. „Güte“ müsste man auch neu definieren, wenn „kleine Kinder und Verrückte am Leben erhalten“ kein Kriterium mehr wäre.

Hat ein Menschenschinder Menschenwürde?

Es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, ab wie ausgeprägter Bosheit des anderen man Probleme mit dessen Menschenwürde bekommt. (Die eigene Menschenwürde stellen die wenigsten in Abrede.) Ich selbst tue mich äußerst schwer, nordkoreanische und andere Diktatoren als Träger unverletzlicher Würde zu sehen. Allerdings habe ich zwischen ihrer Person und ihren Taten zu unterscheiden.

Wenn wir beschließen, Menschenwürde sei ab einem bestimmten Maß an Bosheit oder einem bestimmten Mangel an Tugend nicht mehr vorhanden, so müssen wir genau dieses Maß bestimmen und auch, ob und wie Menschenwürde dann wieder erwerbbar ist. Ein Totschlag im Affekt mit folgender Reue wird wohl nicht langen, aber ein besonders heimtückischer Mord vielleicht? Oder doch erst zwei oder zweitausend? Ist es relevant, ob zusätzlich eine Geisteskrankheit vorliegt? – Man merkt, daß die Frage unsinnig ist. Wir besitzen Menschenwürde entweder ganz oder gar nicht. Wenn gar nicht, sind alle Gesetze zum Schutz derselben Makulatur, und wir dürfen mit unseren Nächsten umgehen, wie immer wir wollen. Das kann kein Mensch, der ansatzweise bei Sinnen ist, erstreben.

Also die ganze Menschenwürde für jeden und immer? Und was machen wir dann mit Verbrechern?

Ich bin ganz und gar für die Ahndung von Verbrechen und auch dafür, daß beim Strafmaß berücksichtigt wird, was der Täter genau getan hat, ob zu ersten Mal, zum Teil auch, warum er es getan hat, ob er bereut und ob er zu einer Art Wiedergutmachung bereit ist. Bei den großen Staatsverbrechern, den Massenmördern der Gegenwart, ist das (wenn es überhaupt je zum Prozess kommt) besonders schwierig. Bei denen der Vergangenheit ist ohnehin nur die eine oder andere Betrachtungsweise als „Strafmaß“ möglich. Und bei jetzt lebenden Menschenschindern stellt sich eben doch die Frage, ob Erschießen nicht ganz richtig wäre. Und ob man ihnen damit nicht doch die Menschenwürde aberkennt.

Nun ist Tyrannenmord einerseits immer noch Mord, damit ein Angriff auf die Menschenwürde, andererseits kann man ihn mit gutem Recht als Notwehr und Nothilfe ansehen (womit er nach juristischen Begriffen nicht mehr „Mord“, sondern „Tötung in Notwehr“ wäre – für das Opfer ist das egal). Er bleibt aber, auch wenn er als letztes Mittel nach gescheiterten Versuchen, auf gute Art Recht und Ordnung wiederherzustellen, nicht strafwürdig sein kann, eine in sich verkehrte Handlung. Damit will ich nicht etwa Tyrannenmörder verurteilen (ich sagte gerade, daß das legitim gar nicht ohne weiteres geht). Nur leider gibt es Situationen, in denen man nur entweder falsch oder noch falscher handeln kann. Diese Situationen sind aber selten genug, und ihre Existenz darf nicht als Ausrede benutzt werden, um jemanden zu ermorden, wenn es bessere Möglichkeiten gibt, einem Übel abzuhelfen.

Für die Seele des Mörders oder Totschlägers ist die Tat niemals gut. Auch nicht, wenn man sie sehr gut verstehen kann. Es ist nicht mit der Menschenwürde vereinbar, jemand umzubringen – auch nicht mit der eigenen. Aber diese Würde bleibt dennoch bestehen, im Täter wie im Opfer. Ich habe keine Lösung für das Problem, daß extreme Gewalt unter bestimmten Umständen gerechtfertigt (und dann kein Mord) ist. Wenn z.B. Verhandlungen bei einem Bankraub mit Geiselnahme scheitern, sind die Scharfschützen dran, und man muss froh sein, wenn sie ihr Handwerk verstehen – und darf dennoch trauern um den vorzeitigen Tod eines Menschen, denn der Geiselnehmer ist ein Mensch. Daß es der Seele schadet, jemanden umzubringen, auch wenn dies durch einen „finalen Rettungsschuss“ geschieht, der nach menschlichem Ermessen die einzige Möglichkeit zur Rettung eines Unschuldigen war, weiß die Polizei sehr genau. Nicht umsonst kommen nach solchen Ereignissen Polizeipsychologen zum Einsatz. Der seelische Schaden entsteht eben dadurch, daß ein Mensch etwas getan hat, was der Würde seines Menschseins widerspricht, auch wenn es unabwendbar und in dieser besonderen Situation richtig war.

Es gibt Fälle, die den Tätern wie Nothilfe oder Notwehr erscheinen (vielleicht gar wie Tyrannenmord), es aber nicht sind. Das ist zum einen die leider häufige vorgeburtliche Kindstötung, zum anderen sind es viele Fälle von Beziehungstaten (nicht alle, denn manchmal liegt echte Notwehr vor), und schließlich ist es die derzeit so stark diskutierte Tötung auf Verlangen im Fall schwerer Krankheit oder Behinderung. Sie alle widersprechen der Menschenwürde des Opfers und des Täters, im Falle von Abtreibung auch der Menschenwürde der Mutter, die in der Regel nicht selbst Täterin ist, zumindest nicht allein, und zugleich zum Opfer wird. Wenn ich sage „Es widerspricht der Menschenwürde, einer Mutter das Kind aus dem Bauch zu reißen“, wird keiner widersprechen. Wenn ich sage „Es widerspricht der Menschenwürde, eine Frau zur Abtreibung zu nötigen oder zu zwingen“, ebenso. Aber wenn ich sage „Jede Abtreibung widerspricht der Würde von Mutter und Kind“, werde ich Entrüstung ernten. Das ändert aber nichts daran, daß es genau so ist. Wie schon öfter gesagt: Die Tötung eines Menschen widerspricht der Menschenwürde dessen, der getötet wird und dessen, der tötet. Menschen töten ist generell nicht gut für die, die es tun (oder in Auftrag geben).

Wenn wir Menschenwürde nicht absolut denken, von der Zeugung bis zum natürlichen Tod jedem Menschen innewohnend, dann können wir die Idee gleich ganz aufgeben. Dann aber muss das für jeden gelten – auch für den ganz persönlich, der die Menschenwürde für überflüssig erklärt.

Unbedingte Menschenwürde ist das Konzept, das Gläubige und Atheisten vereinen sollte in der Grundidee „Du sollst nicht morden“. Wie hinfällig das Konzept ist, sehen wir jeden Tag. Aber wäre es gar nicht mehr vorhanden, dann wären Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, ja selbst fahrlässige Tötung kein Thema mehr für Gerichte, sondern höchstens ärgerliche Vorkommnise des Alltags, mit denen man eben leben – oder sterben – muss.

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Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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11 Antworten zu Warum man nicht morden darf (auch dann nicht, wenn es gerade sehr gut passt)

  1. Nepomuk schreibt:

    Weitgehend stimme ich natürlich zu. Wobei es eine interessante Frage ist, ob die Verdammten in der Hölle Menschenwürde haben; Chesterton sagt übrigens „ja“, weil sie auch dort noch den Heiligenschein der freien Willensentscheidung tragen, durch die sie sich dahin gebracht haben… interessant; aber jedenfalls, und darauf kommt es Dir ja an, von uns nicht zu beurteilen.

    Nicht zustimmen kann ich hier:

    >>Nur leider gibt es Situationen, in denen man nur entweder falsch oder noch falscher handeln kann.

    Das ist genau falsch – allerdings ist dieser Irrtum zugegeben weit verbreitet und trägt, dürfte ich meinen, zur Ausbildung entsprechender psychischer Probleme (PTBS usw.) zumindest gehörig mit bei.

    In Wahrheit gilt natürlich: Non detur perplexitas; es gibt immer, in jeder denkbaren Situation und auch unabhängig von allen Vorgeschichten, durch die man sich vielleicht in eine Lage gebracht hat, ausnahmslos mindestens eine Möglichkeit, genau jetzt *völlig richtig* zu handeln.

    Weswegen ein Polizist nach einem finalen Rettungsschuß das volle Recht hat, gut zu schlafen, und ein Beichtvater, dem er den finalen Rettungsschuß beichten wollte, die Pflicht hätte, ihm über den Mund zu fahren. (Dasselbe gilt für einen Arzt, der Triagemaßnahmen durchführt.) – Man muß halt damit leben, daß es in der Tat immer falsch ist, jemandes Menschenwürde zu verletzen, nicht aber notwendigerweise, ihn zu erschießen. Genau deswegen hat es übrigens durchaus des öfteren so etwas wie Kameraderie zwischen einander gegenüberliegenden Soldaten gegeben: Den Feind hassen ist verkehrt. Den Feind erschießen nicht. Und die Beteiligten spürten das durchaus sehr oft sehr genau, wenn man den berichten trauen kann. (Kombattant vorausgesetzt und die grundsätzliche Frage, welche Kriegspartei im Recht ist, beiseitegesetzt.) – Darin liegt auch der Grund, daß der Vollzug der Todesstrafe keineswegs ein Mord oder ein Sichaufdieselbestufestellen-mit-dem-Verbrecher ist (woraus freilich nicht ohneweiteres folgt^^, daß sie *angemessen* oder *notwendig* oder *hilfreich* oder in *besonderem* Maße lebensfreundlich ist).

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  2. Hans-Jürgen Caspar schreibt:

    Liebe Frau Sperlich,

    ein sperriges Thema, dem Sie sich dankenswerter Weise widmen. Ihren Ausführungen kann ich gut folgen. Neu ist mir der Gedanke, dass jemand, der die Menschenwürde eines anderen verletzt, dies auch mit der eigenen tut. Interessant wäre vielleicht noch, was die Bibel zu all‘ dem sagt. (Natürlich weiß ich, dass der Begriff Menschenwürde in ihr gar nicht vorkommt.)

    Mit herzlichem Gruß
    Hans-Jürgen Caspar

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    • Claudia Sperlich schreibt:

      Ein schönes Beispiel, warum Mord schlecht für den Mörder ist, ist Jeremia Elija. Der Prophet tut erst alles auf Gottes Geheiß. Gott spricht, Jeremia Elija handelt. Dann aber begeht er einen Massenmord an heidnischen Priestern! Und zwar eigenmächtig, ohne Aufforderung von Gott. Daraufhin wird er depressiv. Er flieht in die Wüste und will nicht mehr leben. Erst die eindringliche Aufmunterung durch einen Engel lässt ihn wieder hören und handeln. Seine Buße besteht darin, daß er zum Berg Horeb geht – ein beschwerlicher Weg! – und dort eben wieder auf Gott hört. Dort nimmt Jeremia wahr, daß Gott nicht im Sturm ist, sondern im sanften Säuseln.

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      • Herr S. schreibt:

        Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie korrigiere: Es handelt sich um den Propheten Elija (1 Kön).

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        • Nepomuk schreibt:

          Und als Gott im Säuseln spricht, sagt er dann:

          „Geh deinen Weg durch die Wüste zurück und begib dich nach Damaskus! Bist du dort angekommen, salbe Hasaël zum König über Aram! Jehu, den Sohn Nimschis, sollst du zum König von Israel salben und Elischa, den Sohn Schafats aus Abel-Mehola, salbe zum Propheten an deiner Stelle. So wird es geschehen: Wer dem Schwert Hasaëls entrinnt, den wird Jehu töten. Und wer dem Schwert Jehus entrinnt, den wird Elischa töten. Ich werde in Israel siebentausend übrig lassen, alle, deren Knie sich vor dem Baal nicht gebeugt und deren Mund ihn nicht geküsst hat.“

          Was will ich damit sagen? Erstmal gar nichts: nur, daß die Darstellung, daß Elija wegen seiner Prophetenschlachtungsaktion depressiv und das, auch wenn Gott ihn dann wieder aufgerichtet, gewissermaßen zurecht war, vielleicht etwas nicht ganz dem Wort Gottes gerecht wird. Denn das steht nämlich so da, wie es dasteht.

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        • Claudia Sperlich schreibt:

          Nun, der Mord an den heidnischen Priestern ist aber die eine Tat, die nicht auf Gottes Geheiß geschah.
          Zudem: Gott sagt – meiner Ansicht nach sehr sachlich – was Menschen tun werden. Ja, das ist eine Folge der Sünde. Aber von sich selbst sagt Er nur, daß er Menschen verschonen wird – daß das Unterlassen von Sünde Schonung zur Folge hat.

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        • Claudia Sperlich schreibt:

          Dankschön! (Peiiiinlich…) Ich habs korrigiert.

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        • Herr S. schreibt:

          Ist mir auch schon passiert – wir sind halt nur Menschen, die auch mal gelegentlich einen Fehler machen.

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  3. Danke für den Hinweis auf die bestürzende Szene auf dem Berg Karmel.

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    • Hans-Jürgen Caspar schreibt:

      Kleine Ergänzung: Elia folgte ohne besondere neue Aufforderung Gottes Befehlen in 5.Mo13.

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      • Claudia Sperlich schreibt:

        Das stimmt. Allerdings gibt Gott für diese äußersten Fälle eine sehr genaue Anweisung: „wenn du dann durch Augenschein und Vernehmung genaue Ermittlungen angestellt hast und sich gezeigt hat: Ja, es ist wahr, der Tatbestand steht fest, dieser Gräuel ist in deiner Mitte geschehen“ – also nicht nach Gefühl oder Gutdünken, sondern nach „genauer Ermittlung“ ist hier unter bestimmten Umständen selbst die Todesstrafe angebracht.
        Für mich immer noch ein ziemlicher „Hammer“, über den ich vielleicht später einmal etwas schreibe.

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