Immer wieder höre ich aus dem freikirchlichen Spektrum harte Kritik an der Kirche, nicht wegen besonderer Ereignisse oder Untaten oder Fehler (das kommt später in der Diskussion), sondern weil sie Kirche ist. Oft kommt diese Kritik in Großbuchstaben, mit zahlreichen Ausrufungszeichen und in phantasievoller Rechtschreibung und Grammatik. (Letzteres finde ich generell nicht allzu schlimm, aber die Mischung macht’s. Zudem bin ich der Ansicht, wenn man in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert ist, kann man sich mit der Landessprache ruhig so viel Mühe geben wie die koreanischen und senegalischen Mitglieder meiner Gemeinde, deren Deutsch perfekt ist. Das nur nebenbei.)
Was ist nun die Kritik?
1. Jesus hat gar keine Kirche gewollt!
Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.
Mt. 16,18-19
Im Original: σὺ εἶ Πέτρος, καὶ ἐπὶ ταύτῃ τῇ πέτρᾳ οἰκοδομήσω μου τὴν ἐκκλησίαν καὶ πύλαι ᾅδου οὐ κατισχύσουσιν αὐτῆς. δώσω σοι τὰς κλεῖδας τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν, καὶ ὃ ἐὰν δήσῃς ἐπὶ τῆς γῆς ἔσται δεδεμένον ἐν τοῖς οὐρανοῖς, καὶ ὃ ἐὰν λύσῃς ἐπὶ τῆς γῆς ἔσται λελυμένον ἐν τοῖς οὐρανοῖς.
ἐκκλησία, Ekklesia, ist wörtlich „die Herausgerufene“. Nicht „die Herausgerufenen“, obwohl sie aus denen natürlich gebildet ist, sondern ein weibliches Singularwort, das die Gemeinschaft der Gläubigen – der aus der ungläubigen Welt „herausgerufenen“ Menschen – bezeichnet. (Deshalb ist die Übersetzung „Gemeinde“ möglich, aber etwas unscharf.) Die Kirche ist die Gemeinde der Gläubigen – und zwar eine strukturierte Gemeinde mit einer bestimmten Art des Gottesdienstes, dem „Brotbrechen“. Daß der Ritus des Brotbrechens – von Jesus beim letzten Abendmahl eingesetzt und am Kreuz im Selbstopfer bestätigt – in der jungen Kirche große Bedeutung hatte, geht aus Apg. 2,41-42 hervor. Nach dem Pfingstwunder und der Predigt des Petrus bekehren sich zahlreiche Menschen, und über sie heißt es:
Die nun, die sein Wort annahmen, ließen sich taufen. An diesem Tag wurden ihrer Gemeinschaft etwa dreitausend Menschen hinzugefügt. Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten.
In Apg. 20,7-11 ist die Rede davon, daß die Gemeinde sich am ersten Tag der Woche (also am Sonntag) zum Brotbrechen versammelt. Das Brotbrechen ist offenbar so wichtig, daß die ausufernde Predigt des Paulus sowie Unfalltod und Wiedererweckung des Eutychus davon nur „eingerahmt“ werden: Man trifft sich zum Brotbrechen, Paulus predigt, etwas Spektakuläres geschieht, man bricht das Brot. Die Eucharistiefeier, in der Jesu Selbstopfer unblutig vergegenwärtigt wird, in der Jesus leiblich gegenwärtig ist, war damals, ist heute, bleibt immer Quelle und Gipfel unseres Glaubens und Zentrum der Kirche.
2. Religion ist falsch, ist bloßer Ritus, es kommt nur auf den Glauben an!
Jesus war in Seiner Menschennatur, in Seinem Erdenleben religiös von Anfang an. Er wurde mit acht Tagen beschnitten (Lk. 2,21) wie jeder jüdische Knabe und mit vierzig Tagen im Tempel dargestellt – d.h. die im Judentum übliche Erstgeburtsweihe wurde vollzogen (Lk. 2,22-24). Als Zwölfjähriger (also aus eigenem Antrieb ein Jahr früher als es üblich ist) brillierte Er bei Seiner Bar Mitzwa im Tempel (Lk. 2,41-52).
Jesus ging gewohnheitsmäßig am Sabbat in die Synagoge (Lk. 4,16).
Er hatte die Gewohnheit zu lehren, und Er suchte gewohnheitsmäßig den Ölberg auf, um dort zu beten – bis kurz vor Seinem Tod (Lk. 21,37-38; Joh. 8,1-2; Mk. 10,1; Lk. 22,39).
Er heilte immer wieder Kranke, trieb immer wieder Dämonen aus und ließ sich auch von spätabendlichem Heilungsdienst nicht von seiner frühmorgendlichen Gebetspraxis abbringen (Mk. 1,33-35).
Das gewohnheitsmäßige, regelmäßige Gebet ist gute religiöse Praxis im Juden- wie im Christentum. Jesus wusste, wann Er diese Praxis zu durchbrechen hatte, übte die Religion nicht zwanghaft aus, sondern als Gottes Sohn in der „Freiheit der Kinder Gottes“. Aber Er war selbstverständlich religiös, d.h. an Gott gebunden. (Und das heißt, angesichts Seiner göttlichen Natur, mit Sich selbst im Reinen.)
3. Aber die Pharisäer waren die Religiösen, und die waren allesamt Heuchler.
Es ging den Pharisäern um die Befolgung der Gebote, und sie waren darin äußerst pingelig. Wo Jesus Kritik an an Pharisäern übte, ging es Ihm um den Sinn der Gebote, nämlich die Gottes- und Menschenliebe. Er beobachtete, daß viele Pharisäer die Gebote nicht mehr aus Liebe befolgten, daß ihre Treue zu einer Form der Selbstbespiegelung geworden war. Das tadelt Er hart im Gleichnis von Zöllner und Pharisäer (Lk. 18,9-14).
Ebenso Jesu Zornrede gegen die Pharisäer (Mt. 23), in der Er sie als Heuchler, blinde Führer, Schlangenbrut und übertünchte Gräber bezeichnet, richtet sich weder gegen Treue zum Gesetz noch gegen Religion oder Tempel, sondern gegen eine unmenschliche, pedantische Auslegung, eine Exegese, die sekundäre Regelungen (Waschungen, Abgaben usw.) im Blick hat und nicht das primäre Gebot, Gott und den Menschen zu lieben.
Joseph aus Arimathäa war „ein vornehmes Mitglied des hohen Rats“ (Mk. 15,43). Diesem gehörten hauptsächlich Sadduzäer an, aber auch einige Pharisäer. Anzunehmen ist, daß Joseph aus Arimathäa zu den Pharisäern gehörte, wegen seiner offenkundigen Sympathie für Jesus, der ja mehrmals von der Auferstehung der Toten sprach. (Denn die Pharisäer glaubten an eine Auferstehung der Toten, die Sadduzäer aber nicht, vgl. Mk. 12,18; Apg. 23,8. In diesem Zusammenhang merke ich an, daß für einen Christen „Du Sadduzäer“ ein weit schlimmerer Vorwurf wäre als „Du Pharisäer“.) Bekannt ist, daß er ein heimlicher Jünger Jesu war und daß er von Pilatus wegen des Rüsttages (also wegen der religiösen Bestimmung, Tote zu bestatten und auch Hingerichtete nicht am Sabbat über der Erde zu lassen) die Erlaubnis zur sofortigen Kreuzabnahme erwirkte und durchführte (Joh. 19,38). Auch sorgte er dafür, daß Jesus in einem ordentlichen Grab bestattet wurde – dem Felsengrab, daß Joseph eigentlich für sich selbst gekauft hatte (Mt. 27,57-60; Lk. 23,50-54; Mk. 15,43-46; Joh. 19,38) – und lieferte auch das Grabtuch. Daß er reich war, wird ausdrücklich genannt.
Nikodemus war ein Pharisäer, der Jesus aufsuchte, Ihm Fragen zu Seiner Lehre stellte und Ihm eine Nacht lang zuhörte (Joh. 3,1-21). Er mahnte seine gegen Jesus aufgebrachten Standesgenossen zur rechtmäßigen Beurteilung (Joh. 7,50-51). Bei Jesu Begräbnis stiftete Nikodemus eine große Menge Myrrhe und Aloe zur Balsamierung des Leichnams (Joh. 19,39). Er war Jesus also zumindest sehr wohlgesonnen und bestand aus religiöser Motivation auf Gerechtigkeit.
Paulus, der Völkerapostel, war Pharisäer und sah nach seiner Bekehrung im Christentum keinen Widerspruch, sondern vielmehr Bestätigung der pharisäischen Lehre von der Auferstehung der Toten (vgl. Apg. 23,6).
4. Jesus braucht keine steinernen Kirchengebäude!
Jesus „braucht“ auch keine Menschen und keine Welt. Aber Er hat, wie oben erklärt, die Kirche gestiftet.
Die Christen trafen sich zunächst reihum in den Häusern der Wohlhabenden der Gemeinde. Aber die Gemeinde wuchs, und auch sehr reiche Gemeindeglieder haben kein Zimmer, in den hunderte Gläubige feiern können. Als die Kirche legalisiert wurde, begann man, Tempel zu Kirchen umzuwidmen und auch selbständig Kirchen zu bauen, um der stetig wachsenden Gemeinde Raum für den Gottesdienst zu geben. Hierbei achtete man auf Schönheit, besondere Bauformen entwickelten sich. Denn Menschen sind Sinneswesen und brauchen sinnlich erfahrbare Hilfen, um Gott zu preisen. Gesang haben alle Konfessionen; daß Lieder Gott preisen können, leuchtet ein. Kirchenarchitekturen treffen besondere Aussagen: die einladenden Portale romanischer Kirchen, die Lichtführung gotischer Kirchen, barocke Pracht und schließlich die reine, klare Schlichtheit moderner Kirchen wie Notre-Dame-du-Haut von Corbusier machen Aussagen über Gott, über Seine Schöpfung und Seinen Himmel: Er lädt uns ein, ist unser Licht, beschenkt uns verschwenderisch, ist selbst ganz einfach. Der Weihrauch erinnert an das Psalmwort „Wie Weihrauch steige mein Gebet vor Dir auf„, ist zugleich wohlriechend und heilsam. Die Kerzen erinnern daran, daß Christus unser Licht ist – und auch, daß wir uns für Ihn verzehren sollen wie eine brennende Kerze. Die Schönheit der Kirchen hilft unserem oft schwachen Glauben, und zugleich wird Gott durch sie gepriesen. Architekten, Künstler, Organisten, Sänger, ja alle, die nach Kräften beim Gottesdienst mittun, preisen Gott. Katholiken sitzen aufmerksam wie Schüler während der Lesungen aus AT und Episteln, stehen aufrecht und gespannt, um das Evangelium zu hören, knien beim Sanctus vor dem Heiligen Gott nieder – alle Körperhaltungen während der Messe haben ihren Sinn und sind biblisch begründbar.
Evangelische und freikirchliche Gemeinschaften lieben biblische Begründungen. Frage ich aber nach biblischen Begründungen gegen die katholische Kirche, so kommen die Genannten – und die lassen sich biblisch widerlegen.
Nur gegen einen Vorwurf bin ich machtlos:
5. Die Katholiken beten Maria an!
Nein, Katholiken beten Maria nicht an, oder vielmehr, jeder Katholik, der das doch tut, sollte schnellstmöglich beichten – denn das wäre eine schwere Sünde. Verehrung ist etwas grundsätzlich anderes als Anbetung. (Man ehrt ja im günstigen Falle auch seine Eltern – sie anzubeten, wäre allerdings höchst neurotisch.) Genaueres habe ich hier geschrieben.
Aber nachdem ich gefühlte hundertvierundvierzigtausend Mal den Unterschied zwischen Anbetung und Verehrung, zwischen „jemanden um etwas bitten“ und „jemanden anbeten“ erklärt habe und von freikirchlicher Seite immer als einzige Antwort kam „Doch, du betest Maria an!“, bin ich in diesem Punkt eher pessimistisch, was das gegenseitige Verständnis betrifft. Dennoch kann ich es nicht lassen, es noch einmal ganz kurz und knapp und einfach zu sagen:
Wir Katholiken finden die Mutter Jesu großartig. Wir reden auch mit ihr.
Danke, Frau Sperlich für Ihr so Not-wendiges Apostolat! Der „Synodale Weg“ sollte sich eine dicke Scheibe davon abschneiden!
Ich habe übrigens heute ein Kerzchen angezündet aus Anlass des Todestages einer Ekklesiologin, die meine Seelenführerin gewesen ist.
Christus ist das Haupt und wir die Glieder. Das sieht offenbar eine Bewegung anders, die sich „Wir sind Kirche!“ nennt. Mit Blick auf eine solche Irreführung kann ich Protestanten und Evangelikale verstehen.
Maria, die ich als „Knotenlöserin“ verehre, bitte ich gemeinsam mit der Bloggerin alle Knoten der Irrlehren und Irrtümer aufzudröseln und zu entwirren. „Bewahre uns vor Verwirrrung und Sünde“ beten wir in der Heiligen Messe. Der Name des großen Verwirrers ist Satan.
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Im 2. Johannesbrief erfahren wir von der Herrin. Der Verfasser nennt so die Kirche, die Braut des Bräutigams Jesus Christus.
Die katholische Kirche hat nie aufgegeben das Individuum in Jesu Gemeinschaft der Gläubigen, seinen Leib, seine Kirche zu stellen. Der Protestantismus stellt den Glauben des Individuums in Jesu Gemeinschaft.
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Danke für die klaren und deutlichen Worte! Ich habe als Zwölfjährige versucht, gegen meinen Religionslehrer zu argumentieren, der als katholischer Priester die These vertrat, Jesus habe die Kirche nicht gewollt. Seine Begründung war, dass das „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ dem Herrn in den Mund gelegt worden sei – wie so vieles andere auch. Natürlich habe ich diese Diskussion verloren, denn meine Entgegnung „Das ist nicht wahr“ hat er einfach beiseite gewischt. Und ich blieb mit meinem hilflosen Zorn allein.
Systematisch vermittelte er den Eindruck, in der Bibel sei eh‘ alles verfälscht und die Kirche eine Bande von Wortverdrehern und Lügnern. Was hätt‘ ich drum gegeben, ihm Ihren Blogartikel unter die Nase zu halten!
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Willkommen und Dank für diesen Beitrag. Ja, diesen Ungeist gibt es leider oft – ich hatte gerade eine Debatte zum Thema. Schade, aber irgendwann kann man sich nur noch betend zurückziehen. Staub von den Füßen schütteln. Und eventuell bloggen.
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