Zeitgemäß

Es gibt wenige Worte in der reichen deutschen Sprache, die ich wirklich verabscheue. Einige menschenverachtende Ausdrücke gehören dazu, suchen Sie sich einfach einen aus, und dann das Adjektiv „zeitgemäß“. Ich lese und höre es immer wieder – und mit steigendem Ekel.

„Zeitgemäß“ heißt: So, wie eine Mehrheit (oder auch nur eine Menge, die lauter schreit als andere) es haben will. Als zeitgemäß gelten Auffassungen immer dann, wenn sie anderen Auffassungen widersprechen, die einige Zeit vorher noch allgemein anerkannt wurden.

Ein „zeitgemäßer“ Umgang mit Sexualität wird von verschiedenen Parteien gefordert, das heißt, es soll endlich akzeptiert werden, daß jeder mit jedem immer und überall darf. „Zeitgemäß“ soll dann auch der Umgang mit möglichen Folgen von Sex sein – wegmachen, was nicht passt. „Zeitgemäßer“ Umgang mit Behinderten ist deren vorgeburtliche Abschaffung, zuweilen mit dem absurden Argument, der Behinderte würde seine Abschaffung ja selbst wollen, wenn man ihn fragen könnte.

„Zeitgemäß“ heißt im Grunde nur: „So, wie ich, der dies Wort gerade benutzt, annehme, daß meine Mitmenschen es wollen sollten.“ Es ist ein diktatorisches Wort, ein Wort, daß alles vom persönlichen Geschmack bis zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen korsettieren will.

Zeitgemäß ist die hysterische Angst vor Krankheit, Behinderung und Alter. Zeitgemäß ist das Bedrängen von Müttern, „das“ doch „wegzumachen“, wenn „es“ gerade nicht passt, möglicherweise nicht gesund ist (und somit in diese Gesellschaft nie passen wird) oder dem Willen des Erzeugers widerspricht. Zeitgemäß ist die gnadenlose Verzweckung der Sexualität, die Degradierung zum Spaßfaktor (allenfalls noch mit dem therapeutischen Gedanken, daß es ja „gesund“ ist, Sex zu haben – als ob man aus Gesundheitsgründen miteinander ins Bett gehen wollen kann!).

Als katholische, alternde, unsportliche Dichterin mit Epilepsie bin ich nicht zeitgemäß. Zeitgemäß ist säkular, jung, sportlich, gesund und wirtschaftsorientiert. Aber dafür bin ich ewigkeitsorientiert, wie die Religionsgemeinschaft, der ich angehöre und die immer wieder bedrängt wird, „zeitgemäß“ zu werden. Sie wird es nicht, weil das ihrem Wesen widerspricht – Dank sei Gott.

Zeitgemäß ist ganz einfach Scheiße. Und nur eines dieser Wörter verabscheue ich wirklich.

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Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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4 Antworten zu Zeitgemäß

  1. akinom schreibt:

    Dem Unwort zeitgemäß setzt ich das Mut machende mutige TROTZDEM! entgegen.

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  2. Zeitgemäßen Umgang mit Menschen, die nicht mehr „ordnungsgemäß funktionieren“ mußte ich hier vor Kurzem erleben. Ein kirchlicher (nicht christlicher) Dienstherr kündigte einer Mitarbeiterin während einer Krankheit. Das allein ist schon schofelig, aber es ist „zeitgemäß“. So hab ich mit diesem Begriff auch so meine Probleme.
    Ganz lieben Gruß vom ollen grauen Wolf aus dem Land am Meer.

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    • Claudia Sperlich schreibt:

      Das ist in der Tat übel. Selbst wenn ein Arbeitgeber sieht oder vermutet, daß ein Mitarbeiter für seine Arbeit gesundheitlich einfach nicht mehr in der Lage ist, hat er das anders zu handhaben, d.h. erst mal mit dem Betreffenden sprechen, wenn der wieder auf dem Damm ist, und nach einer Lösung suchen.

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