Joseph schreibt an seinen besten Freund

Lieber Samuel,

sicher erinnerst Du Dich an unser Gespräch, als Maria von Elisabeth zurückkam und man ihre Schwangerschaft schon sah. Du hast mich damals für ziemlich verschroben gehalten, weil ich Dir von meinem Traum erzählt hatte.

Zuerst war ich so traurig und so gekränkt gewesen. Da sagt meine Maria, sie muss auf drei Monate zu ihren Verwandten, weil Elisabeth auf wunderbare Weise schwanger geworden ist. Das konnte ich verstehen, auch wenn ich Maria lieber in meiner Nähe gehabt hätte. Es wurden damals ja auch ziemlich blöde Witze über Elisabeth gerissen, und sie hatte sich ganz zurückgezogen, um nicht angestarrt zu werden wie ein Wundertier, schwanger mit über sechzig Jahren! Maria war ihr nicht nur eine Verwandte, sondern auch eine gute Freundin, und ich sah ein, daß sie Elisabeth helfen wollte.

Und dann kam sie zurück, meine Maria, und war selber sichtbar schwanger! Das war ein Schock, und ich fand keine Erklärung. Hätte sie mir ein Kind unterschieben wollen, wäre sie ja geblieben und hätte auf baldige Hochzeit gedrängt. Hätte sie die Verlobung lösen wollen, hätte sie es einfach tun können – sie kannte mich gut genug, um zu wissen, daß ich ihre Entscheidung geachtet hätte (auch wenn es furchtbar für mich gewesen wäre). Hätte ihr jemand Gewalt angetan, wäre sie kaum so ruhig, so heiter und gelassen gewesen. Es gab keinen Nebenbuhler. Es passte nichts zusammen! Und als ich sie beschwor, mir zu sagen, was eigentlich geschehen sei, schaute sie mich nur groß an und sagte sehr bestimmt, sie werde es mir sagen, aber nicht jetzt.

Du hast mich damals bestärkt, als ich ihr im Stillen einen Scheidungsbrief überreichen wollte, und als ich dann diesen Traum hatte und Dir davon erzählte, hast Du gedacht, ich sei durchgedreht.

Ich hätte auch nie gedacht, daß ausgerechnet zu mir der Ewige einen Seiner Boten schickt! Aber so war es. Es war ganz hell in diesem Traum, und ich war auf einmal ganz voll Vertrauen: Wenn dieser Bote mir sagt, Marias Kind ist von Gott, dann ist das eben so. Zugleich war ich unendlich erleichtert. Samuel, stell Dir einfach vor, alles weist darauf hin, daß Deine Verlobte Dich betrügt, und dann kommt jemand und beweist mit einem Satz ganz klar ihre Unschuld. „Fürchte dich nicht, sie zu dir zu nehmen“, hatte der Bote gesagt. Nicht: „Sei nicht böse auf sie“ oder „Freu dich, ihr könnt zusammenbleiben“ – nein, „Fürchte dich nicht“. Mir war schnell klar, was das hieß: Fürchte nicht, daß Maria lügen könnte, fürchte dich nicht vor deiner eigenen Liebe – und fürchte dich nicht vor den blöden Kommentaren der Nachbarn. Natürlich haben sie mich für einen Schlaffi gehalten, der die Zügel nicht in der Hand hat. Ohne den Engel hätte ich das Geschwätz schwer ertragen. Aber nach diesem Traum dachte ich nur: „Ihr wisst es halt nicht besser.“

Dann mussten wir wegen dieser Volkszählung nach Bethlehem. Ich sage Dir nichts Besonderes damit, auch Du musstest damals mit den Deinen in Deine Geburtsstadt, und auch für Dich war es lästig, nur war Deine Sarah zu der Zeit wenigstens nicht schwanger. Der Weg ist nicht besonders weit, ein Tagesmarsch, wenn ich allein wäre – aber Maria konnte nicht mehr so lange Wege gehen. In der ersten Nacht fanden wir Unterkunft, aber Bethlehem war gesteckt voll. Daß wir doch noch einen Platz fanden, war der Findigkeit eines Mannes geschuldet, der schon mehr Gäste in seinem Haus untergebracht hatte, als eigentlich hineinpassten. Es war ihm sichtlich peinlich, daß er keinen Platz mehr hatte, obwohl Maria wirklich nicht mehr konnte und kurz vor der Niederkunft stand. Aber er schickte dann seine Tochter los, um uns den Weg zum Stall zu zeigen. Die Tiere waren auf der Weide, bis auf einen schlachtreifen Ochsen. Unser Esel hatte auch noch Platz. Die Wirtstochter hatte noch Wasser und Decken mitgenommen. Die Unterkunft war damit zwar nicht schön, aber warm und trocken.

Und dann, in dieser Nacht, bekam Maria ihr Kind. Ich legte den Tieren das Heu auf den Boden, richtete den Futtertrog mit Stroh und einer Decke zu einem Bettchen her, und als ich den Kleinen sah und sah, wie Maria ihn anschaute – da dachte ich zum ersten Mal: Es ist nicht einmal wichtig, ob er direkt von Gott stammt. Meine Maria ist glücklich. Der Ewige hat gegeben, daß das Kind gesund ist und schön.

Aber dann kamen Hirten zu uns und sagten, ein Engel habe sie hergeschickt, und die Himmlischen Heerscharen haben Gott verherrlicht, dort auf der Weide. Sie sagten noch mehr – bestätigten meinen Traum. Sie sagten, unser Junge sei der Erwartete! Es sind nur Hirten – aber sie widersprechen sich nicht, und ich glaube ihnen, daß sie Engel gesehen und gehört haben. Und dann, bei allem, was man heutzutage gegen Hirten vorbringt, mein Stammvater David war ja auch ein Hirte, oder?

Ich als Vater – also, Adoptivvater – des Messias. Ich fühle mich eigentlich viel zu klein dafür. Aber Maria meinte, als ich das kurz vor der Geburt sagte, ich solle mich nicht so haben, und wenn der Ewige das so bestimmt hat, dann kann ich das.

Lieber Samuel, ich würde mich freuen, wenn Du uns demnächst besuchst. Ich sehe den Kleinen als meinen Sohn an, für den Gott mir die Verantwortung übertragen hat und den ich liebe, auch wenn alles ganz anders ist als es scheint. Ob er wirklich der Messias ist? Ich glaube schon, Maria ist sich ganz sicher. Aber zunächst einmal ist er unser süßes geliebtes Kind, unser Erstgeborener. Ich bin glücklich über meine kleine Familie.

Dein Joseph

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Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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