Ein unbewiesenes Massaker

Heute gedenkt die Kirche mit dem Tag der Unschuldigen Kinder der Opfer eines unter Herodes verübten Massakers.

Die Opferzahl wird bei Matthäus nicht genannt; sie wurde mit symbolischen Zahlen (Rekord: 144.000 – in hebräischer Tradition die Chiffre für Unendlich) im Laufe der Zeit über jedes mögliche Maß überhöht. Man geht heute angesichts der Größe und angenommenen Einwohnerzahl Bethlehems und der Nachbarorte von etwa fünfzig Kindern aus.

Sagen wir: Fünfzig. Fünfzig Kinder, die ältesten etwa zweijährig, von römischen Soldaten massakriert. Wenn so etwas heute z.B. in Nigeria geschieht, melden einige Zeitungen es auf der zweiten oder dritten Seite. Immerhin. Wenn es, wie manche behaupten, nur ein rundes Dutzend war, würde die Presse schweigen. Wenn es hunderte sind in Nordkorea, merkt es keiner.

Heute wird gerne behauptet, der Bethlehemitische Kindermord habe gar nicht stattgefunden. Das wird daraus geschlossen, daß es außer bei Matthäus keine Nachrichten darüber gibt. Der als sehr genau bekannte jüdische Historiker Josephus sagt nichts darüber.

Und das ist nun wahrlich kein Grund und auch keine wissenschaftlich redliche Methode, auf die Nichtexistenz dieses Verbrechens zu schließen.

Herodes starb 4 v.Chr. – einer von vielen Hinweisen darauf, daß die Geburt Christi traditionell einige Jahre später angesetzt wird, als sie tatsächlich geschah. Kein Grund zur Sorge – und vor allem kein Grund, die Bibel umzuschreiben oder das Christentum für falsch zu halten. Herodes konnte von der Geburt des Messias auf genau dem beschriebenen Wege – durch reisende Gelehrte – erfahren haben.

Der Kindermord in einem aus römischer Sicht unbedeutenden Provinzkaff ist nur bei Matthäus erwähnt – aber Herodes ist der Geschichtsschreibung gut bekannt. Er ließ den mutmaßlichen Mörder seines Vaters nicht in einem Prozess verurteilen, sondern durch einen Killer beseitigen. Seine Frau verstieß er zugunsten seiner Schwägerin Mariamne, die er später umbringen ließ. Seinen 16jährigen Schwager machte er auf Bitten eben dieser Frau zum Hohepriester, um ihn dann nach dessen erster Amtshandlung in einem Schwimmbecken ertränken zu lassen. Mariamnes beide Söhne ließ er wegen Hochverrats hinrichten. Seine insgesamt etwa sieben Ehen lassen nicht auf einen besonders beziehungsfähigen Menschen schließen.

Sein an nordkoreanische Gepflogenheiten erinnernder Plan, angesehene, zu diesem Zweck gefangene jüdische Männer sofort nach seinem Tod hinrichten zu lassen, „damit die Juden bei seinem Tod weinten“, gelang nicht; die Männer wurden befreit.

Herodes leistete während einer Hungersnot großzügige humanitäre Hilfe. Zudem sorgte er durch finanzielle Zuwendungen für den Erhalt der Olympischen Spiele. Brot und Spiele, ja.

Ist es nicht denkbar, daß dieser Mensch mal eben, so nebenbei, die Kinder einer kleineren Ortschaft abschlachten ließ? Auch ohne daß die römische Welt das besonders zur Kenntnis nahm? Vielleicht sagte man in der High Society Roms etwa dies:

Haben Sie gehört, das mit Herodes? – Nein, was denn jetzt wieder? – Er soll da in so einem Nest, Belle… öh, Bessel… ach, ich kann mir diese komischen Ortsnamen nicht merken… also, da sollen Kinder totgeschlagen worden sein auf seinen Befehl. – Juppiter! Wie schrecklich! Kinder!!! Reichen Sie mir bitte die Wachteln?

Josephus kann, bei all seiner Gewissenhaftigkeit, dies Geschehen (das zu seiner Zeit bereits mehrere Jahrzehnte her war) durchaus übersehen haben.

Ich gehe davon aus, daß damals Kinder aus Machtgier und Angst um den Thron ermordet wurden. Zum einen halte ich Matthäus für einen vertrauenswürdigen Zeugen. Zum andern ist es Herodes zuzutrauen, dergleichen befohlen zu haben, und der Welt ist zuzutrauen, dergleichen nicht merken zu wollen.

Man merkt dergleichen ja auch heute nicht so gerne. Obwohl es geschieht.

Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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Eine Antwort zu Ein unbewiesenes Massaker

  1. Wolfram schreibt:

    Jein…

    Meine Einwände beziehen sich übrigens gleichermaßen auf die Geburtserzählungen von Matthäus und Lukas (der Census des Caesar Augustus ist ja auch nirgends belegt):
    – wir haben zwei Geburtserzählungen. Die passen aber nicht zusammen. Die eine erzählt eine Familie, die in Bethlehem wohnt. Die Verkündigung geschieht an Josef. Das Kind wird im Haus der Familie geboren und daselbst von morgenländischen Sterndeutern besucht, als es zwischen ein und zwei Jahren alt ist. (Krippenalter in Deutschland oder Frankreich, immerhin. 😉 ) Aufgrund der politischen Bedrohung geht die Familie für einige Jahre ins Exil und siedelt sich bei ihrer Rückkehr in einem anderen Landesteil an, vorsichtigerweise in einem verlorenen Kaff weitab der Hauptstadt.
    Die andere Geschichte erzählt uns eine Familie, die einer administrativen Verpflichtung willen für einige Tage das heimische Nazareth verläßt und nach Bethlehem geht. Dort kommt das Kind zur Welt, wird beschnitten und im Tempel freigekauft (die Erstgeburt, sofern männlich, gehört dem Herrn), und dann kehren alle nach Hause zurück.
    Beide Evangelisten bieten eine Abstammungstafel. Nur leider nicht die gleiche.
    Soll man entscheiden, wer recht hat? Dann hat der andere aber zwangsläufig Unrecht!
    Oder diese Erzählungen nehmen als das, was in jener Zeit völlig normal war und nur uns durch unsere kartesianische Verformung abwegig erscheint: als literarisches Produkt, das keine oder kaum historische Realität abbildet (außer „geboren von der Jungfrau Maria in Bethlehem, aufgewachsen wie ein Sohn des Josef in Nazareth“ haben die beiden Geschichten auf dieser Ebene nichts zu bieten, und die diversen Glaubensbekenntnisse der christlichen Kirche nehmen nicht mal das vollständig auf!), dafür aber – jedes auf seine Weise, und doch übereinstimmend – die große Wahrheit, die auf seine Art auch der Johannes-Prolog formuliert: Jesu Geburt ist kein Zufall; er ist auch nicht am Jordan per Losverfahren zum Messias geworden. Sondern seine Geburt ist die Geburt Gottes in die Welt der Menschen hinein. Der Allmächtige macht sich all abhängig. Nicht in der Welt der Fürsten, sondern in der Welt der kleinen Leute. Und ob Lukas durch die Menge der „perfekten Juden“ oder Matthäus durch die Nachreise des Exodus, aber auch durch das manchmal schon nervige „dies geschah, damit erfüllt würde, was schrieb der Prophet…“: Jesu Geburt ist die Fortsetzung, nahtlose Weiterführung dessen, was wir „Altes Testament“ nennen. Nicht eine neue Geschichte, sondern dieselbe, nur ein neues Kapitel. Die Erfüllung dessen, was die Propheten verkündeten, was Simeon erhoffte und erwartete.

    Diese Geschichten sind eine Art Gleichnisse. Wie die von Jesus: wenn er sagt: „wer unter euch würde nicht auch…“, haben sicher die meisten gedacht: ich! Weil eben kein vernünftiger Landmann 99 Schafe zurücklässt, um das 100. dann womöglich doch nicht zu finden, aber die 99 zu verlieren. Oder beim Säen ¾ des Saatguts zu verschleudern, zumal man damals bei fünffachen Erträgen schon eine gute Ernte hatte; hundertfach ist noch heute utopisch.
    Nein, so sind wir nicht, aber gerade deshalb helfen uns diese Erzählungen, Gott zu begreifen.

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